Silvester in Lemberg
Lemberg
Nach kurzer Erfrischung mache ich mich auf den Weg, die Bürgersteige in den Nebenstraßen sind teilweise vereist und so ist beim Gehen stets höchste Vorsicht geboten. Aber ich wohne sehr zentral und ein paar Minuten später sehe ich schon einen markanten Punkt, nämlich das im Jahre 2002 eingeweihte Reiterdenkmal von König Danylo. Er wurde 1253 gekrönt und gilt als kluger Feldherr und Diplomat. Während seiner Regentschaft legte er neue Städte an, so auch Lemberg, und benannte die Ansiedlung nach seinem Sohn Lev (übersetzt Löwe). Der Löwe ist auch nach wie vor das Wappentier der Stadt.
Nun ist es nicht mehr weit bis zum Rynok, dem Marktplatz im lebendigen Mittelpunkt des Stadtlebens. Hunderte von Menschen spazieren über den Platz, als Nachtwächter verkleidete Stadtführer erklären ihren Gruppen die einzelnen Bauwerke. Absoluter Blickfang ist das Rathaus mit dem 65 Meter hohen Turm. An einem der nächsten Tage werde ich mich nicht scheuen und die 408 Stufen zur Aussichtsplattform hinaufsteigen. Man hat einen wunderbaren Ausblick und hat, egal in welche Richtung man auch schauen mag, immer ein paar Kirchen im Fokus. Beim Touristoffice, das sich in diesem Gebäude befindet, hole ich mir ein paar Informationen über die Stadt und einen Veranstaltungsüberblick. An der Südseite sind zwei Löwen zu besichtigen, die das Stadtwappen in ihren Pranken halten. An den Ecken des Rathauses wurden vier Empirebrunnen gebaut, die Neptun, Diana, Amphitrite und Adonis darstellen. Schlittschuhläufer vergnügen sich auf einer Eislauffläche an der Nordseite.
Lembergs historische Altstadt gehört seit 1998 zum UNESCO-Welterbe. Ein Spaziergang gleicht einer Zeitreise in die Vergangenheit, findet man hier doch reichlich Spuren der deutschen, polnischen, armenischen und jüdischen Vergangenheit. Über vierzig Bürger- und Patrizierhäuser umsäumen den Marktplatz. Zahlreiche Kirchen sind in der Nähe zu besichtigen, etliche weihnachtlich geschmückte Kioske sind vorhanden, die Verkäufer haben sich eine Nikolausmütze aufgesetzt und verkaufen Glühwein, Würste in allen Variationen, andere Getränke, Süßigkeiten und Weihnachtsschmuck. Aus vielen Lautsprechern ertönt weihnachtliche Musik und ich rufe mir in Erinnerung, dass das Christfest hier ja erst am 6. Januar gefeiert wird. Einige Menschen tragen einen Tannenbaum nach Hause.
Die Stadt gefällt mir und ich freue mich, ein paar Tage hier sein zu können. Nachmittags lege ich meistens eine Pause in einem der zahlreichen Cafés ein und wundere mich, dass hier überwiegend mit Kreditkarte gezahlt wird, auch bei Kleinbeträgen. Geldautomaten sind ausreichend vorhanden. Während meines Besuchs erhalte ich für einen Euro 26,5 UAH, also Hryvja, in der deutschen Sprache auch Griwna genannt. Münzgeld habe ich eher selten gesehen. Zum Abendessen gehe ich immer in ein typisches Restaurant, einige Male ist jedoch kein Platz frei und so muss ich weiter suchen. Die Verständigung bereitet keine Probleme und in den Lokalen, die ich besucht habe, sind auch immer Speisekarten in englischer Sprache vorhanden. Es wundert mich etwas, dass Pizza und Burger so populär sind, ich bestelle dann doch lieber einheimische Köstlichkeiten.
Lemberg, Herz und Hauptstadt der Westukraine bzw. Ostgaliziens, hat eine aufregende Vergangenheit. Sie gehörte von 1349 bis 1772 zum Königreich Polen, abgesehen von ein paar Jahren unter ungarischer Herrschaft. Anschließend, bis zum Ende des ersten Weltkrieges, fiel die Stadt an Österreich und danach, bis 1939, wiederum an Polen. Im September dieses Jahres wurde Lemberg in die ukrainische Sowjetrepublik eingegliedert. 1941 wurde Lwow Teil des deutschen Generalgouvernements und fungierte unter dem Namen Lemberg als Hauptstadt des Distrikts Galizien. Ab 1942 wurden hier mehr als 200.000 Juden umgebracht. Nach dem zweiten Weltkrieg gehörte Lemberg zur Sowjetunion und ist ab 1991 Teil der unabhängigen Ukraine. Mittlerweile hat die Stadt gut 720.000 Einwohner.
Nun also wieder zurück in die Gegenwart. In der Nähe des Rynok sehe ich mir die anmutig auf einem Hügel liegende Michaelskirche an, im Jahre 1634 außerhalb der damaligen Stadtmauern gebaut und dank ihrer zwei Türme immer gut einzuordnen. Gegenüber wurde der Pulverturm errichtet, die einzige im Original erhaltene Bastion. Früher und zu Kriegszeiten diente er als Lager von Munition und Waffen, in Friedenszeiten als Getreidelager. Heute ist er Sitz des Lemberger Architektenverbandes.
Am Büchermarkt mit dem Fedorov-Denkmal, einem Buchdrucker gewidmet, vorbei, gehe ich zur Dominikanerkirche. Ein paar Male durch Feuer zerstört, entstand das heutige Bauwerk in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Beeindruckend ist der frei stehende barocke Hochaltar. Auf der anderen Seite des Büchermarktes wurde die Walachische oder Maria-Entschlafens-Kirche gebaut, daneben erhebt sich der 66 Meter hohe Kornjakt-Turm aus dem 16. Jahrhundert. Er diente als Glocken- und Festungsturm, aber auch als Beobachtungspunkt für Brände. Nachdem ich mir noch die St. Andreaskirche mit dem Bernhardinerkloster angesehen habe, das schöne Deckenfresko wird mir nachhaltig in Erinnerung bleiben, orientiere ich mich in Richtung Oper.
Mein Weg führt mich über den Mickiewicz-Platz mit dem Denkmal des gleichnamigen polnischen Dichters und dann weiter den Svobody-Prospect, dem Stadtboulevard, entlang. Zwischen den Fahrspuren befindet sich eine großzügige Parkanlage mit Kinderspielplatz. Vorbei am Madonnenstandbild taucht linkerhand das Grand Hotel auf, gegenüber das Ševčenko-Denkmal. Taras Ševčenko (weitere gebräuchliche Schreibweisen: Schewtschenko oder Shevchenko) war ukrainischer Nationaldichter. Das Bronzedenkmal wurde von Emigranten in Australien gestiftet. Daneben sehe ich eine zwölf Meter hohe Stele mit Flachreliefs. Es soll die nationale Erneuerung des ukrainischen Volkes symbolisieren. Der Boulevard endet am „Theater der Oper und des Balletts“, dem imponierenden Opernhaus. In der Zeit von 1897 bis 1900 entstanden, soll das Gebäude zu den schönsten Opernhäusern Europas gehören. Leider bleibt mir eine Innenbesichtigung versagt. Vor dem Prachtbau hat sich ein großer Weihnachtsmarkt angesiedelt. Genau wie auf dem Marktplatz stehen hier zweireihig Bude an Bude mit den genannten Köstlichkeiten. Es ist schon recht eigenartig, nach Heiligabend immer noch mit weihnachtlicher Musik beschallt zu werden. Auf der Podiumsmuschel werden am Silvesterabend einige Bands für Unterhaltung sorgen.
Die Probleme der Anreise in Erinnerung fahre ich an einem Vormittag mit der Straßenbahn Nr. 9 zum Hauptbahnhof, um rechtzeitig ein Ticket für die Weiterfahrt nach Kiew zu kaufen. 50 UAH habe ich dem Tramfahrer zu geben, er reicht mir dann den Fahrschein, den ich aber noch zu entwerten habe. Einmal steigt unser weiblicher Chauffeur aus, um eine Weiche manuell zu bedienen. Es gefällt mir, dass die Bekanntgabe einiger Haltestellen mit wunderschönem Chorgesang aus den Lautsprechern garniert wird. Im Bahnhof angekommen, schreibt mir eine freundliche Dame am Informationstand auf einen Zettel, welchen Zug ich wann besteigen soll. Von den über 10 Fahrkartenschaltern hat nur einer geöffnet, also reihe ich mich in die lange Warteschlange ein. Gut 13 Euro kostet die Fahrt in die 550 Kilometer entfernte Hauptstadt. Mit der Fahrkarte in der Hand gehe ich wieder zur Information und bitte die Dame, mir doch Zugnummer, Sitzplatz und Bahnsteig aufzuschreiben, was sie dann auch lächelnd erledigt.
Gegen Abend unterhält ein Gitarrist die Gäste auf dem Marktplatz, einige tanzen sogar – im dicken Mantel und mit Pudelmütze. Nun ist also der Silvesterabend angebrochen. Im „Churrasco“ habe ich Glück und ergattere noch einen freien Platz, aber mit dem Hinweis, dass nach 21:00 Uhr geschlossen wird. Das stört mich nicht, ich bestelle mein Abendessen, heute gibt es Entenkeule, und wundere mich über das gereichte Bier. Es wird in einem Glas, verschlossen mit einem Blechdeckel, serviert. Wohlig gesättigt schlendere ich dann gemütlich den Boulevard entlang zum Opernhaus, denn hier, so habe ich im Reiseführer gelesen und auch Hotelnachbarn aus Zypern meinten es, soll es zum Jahresausklang richtig zur Sache gehen. Viele Menschen stehen vor den Kiosken, essen etwas oder trinken einen Glühwein. Auch ich bestelle hier das ein oder andere Getränk und dann erlebe ich, was auch im Reiseführer angekündigt war, nämlich dass spontan gebildete Chöre wunderschöne ukrainische Volkslieder mehrstimmig singen. Welch ein wunderbares Erlebnis! Gegen 22:00 Uhr betreten die ersten Musiker die Veranstaltungsmuschel vor der Oper und kurze Zeit später beginnt die erste Band ihren Auftritt. Nach und nach füllt sich der Platz und kurz vor Mitternacht herrscht ein solches Gedränge und Geschiebe, dass ich fast Platzangst kriege und mühsam auf die Straße flüchte. Das neue Jahr wird mit einem schönen organisierten Feuerwerk begrüßt, die Besucher haben keine persönlichen Böller dabei. Nun noch ein paar Drinks im Zentrum und dann zurück ins Hotel.
Am nächsten Morgen schaue ich mir das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker im Fernsehen an, sechs deutsche Sender stehen zur Verfügung – allerdings mehrheitlich private. Nachmittags verweile ich wieder im Zentrum. Eine lange Schlange wartet vor dem Waffenmuseum auf Einlass, ich verzichte und gehe stattdessen zu der Stelle, wo sich früher die jüdische Synagoge „Goldene Rose“, die Hauptsynagoge Lembergs und Zentrum des jüdischen Ghettos, befand. Ein paar Grundrisse sind noch erkennbar.
Mein nächstes Ziel ist die Lateinische Kathedrale, die auf eine Bauzeit von 100 Jahren zurück blicken kann. Das Gotteshaus, auch Marienkathedrale genannt, ist Zentrum des religiösen Lebens der hier lebenden Polen. Über dem Hochaltar ist ein Madonnen-Wunderbild zu sehen. Schöne Mosaikfenster bestimmen das Gesamtbild. Die Armenische Kathedrale in der Armenischen Straße kann ich nur von außen besichtigen. So betrete ich stattdessen das Bistro oder Café „Dr. Faust“ und lege eine kleine Pause ein.
Zum Abendessen gehe ich auf Empfehlung einer Kollegin von Jutta ins Restaurant „Puzata Hata“ in der Nähe des Ševčenko-Denkmals. Hier ist Selbstbedienung angesagt und die Gerichte werden nur mit kyrillischen Buchstaben erklärt. Aber es schmeckt sehr lecker und die Preise sind sehr moderat. Schade nur, dass hier kein Wein oder Bier verkauft wird. Den Rest des Abends verbringe ich im Hotelrestaurant „Celentano“, um dann gleich ins Bett fallen zu können, der Abend oder die Nacht vorher haben halt doch Kraft gekostet. Hier im „Celentano“ nehmen wir morgens auch unser Frühstück ein. Es ist auf italienische Speisen und Getränke ausgerichtet und für unsere Verhältnisse auch recht preiswert. Ein halber Liter „Bardolino“ kostet sechs Euro. Der Pizzabäcker steht seinem Kollegen aus Neapel beim Hochwerfen und Drehen des Teiges in nichts nach. Für Kinder ist eine kleine Spielecke eingerichtet. Bedient werde ich von der charmanten Victoria.
Am nächsten Morgen packe ich meinen Koffer, checke aus und fahre, wiederum mit der Tram, erwartungsvoll zum Bahnhof. Lemberg hat sich gelohnt.