Ein Streifzug durch die Masuren
Masuren
Es dauert, bis sich die Dame an der Hotelrezeption bequemt und mir den Weg nach Nikolaiken (Mikolajki) beschreibt. Außerhalb der Stadt habe ich keine Orientierungsprobleme mehr, leistet mir die Straßenkarte „Südliches Ostpreußen“ aus dem Höfer-Verlag doch gute Dienste und danach habe ich mich auch nicht mehr verfahren.
Es geht über Bischofsburg (Biskupiec) nach Sensburg (Magrowo) und schon leuchten an beiden Straßenseiten die ersten masurischen Seen im Licht der Morgensonne. Das Wetter hat sich umgestellt und der Tag lässt sich gut an. Jetzt noch ein paar Kilometer und dann erreiche ich Nikolaiken. Unzählige Plakate erinnern an die Wahl am vergangenen Sonntag.
Ich stelle mein Auto ab und gehe ins Zentrum ans Ufer des Nikolaiken-Sees. Etliche Boote dümpeln im Wasser, ich scheine der einzige Tourist zu sein. Die Cafés haben noch geschlossen und der Ort strahlt eine starke Ruhe aus. Die Angaben im Reiseführer müssen sich wohl auf die Saisonmonate beziehen. Ein einziges Schiff bietet eine Rundfahrt über den See an. Mich stört es nicht und so wandere ich allein, ohne einer anderen Menschenseele zu begegnen, am Ufer entlang. Zurück am Parkplatz überholt mich ein Auto mit Oldenburger Kennzeichen.
Vorbei an vielen Gewässern der Masurischen Seenplatte geht es in Richtung Rhein (Ryn). Viele Bahnübergänge sind unbeschrankt und die Fahrzeuge stoppen vor dem Überqueren der Gleise. Hinweisschilder weisen auf „Agrotourismo“ hin. Diese Form der Beherbergung soll, so lese ich, in letzter Zeit erheblich an Zuspruch gewonnen haben. Viele Orte schmücken sich mit Storchennestern, in Gronovo sehe ich allein vier auf einem Platz, meistens auf einen Strommast gebaut.
Auf kleinen Straßen, die mich manchmal an die Wege in Albanien erinnern, fahre ich dann bis Heiligelinde (Święta Lipka). Die barocke Wallfahrtskirche stellt eine der wichtigsten Pilgerstätten des Landes dar. So soll, der Sage nach, ein zum Tode Verurteilter die Jungfrau Maria um Gnade gebeten haben. Er erhielt ein Stück Holz, schnitzte daraus das Abbild Marias und stellte es an einen Lindenbaum. Das Bild entfaltete seine Zauberkraft und die vielen Wunder, die sich dort ereignet haben sollen, ließen den Wallfahrtsort entstehen.
In der wunderschönen Basilika kann ein Bildnis mit Maria und Jesus im Lindenbaum besichtigt werden.
Mehr beeindruckt hat mich jedoch die Orgel. Das berühmte Instrument wurde um 1720 angefertigt. Es verfügt über 40 Stimmen und Figuren, die eine Verkündigungsszene darstellen. Während meines Besuchs werden Werke von Bach, Schubert und anderen bekannten Komponisten gespielt. Es ist schon beeindruckend, wenn sich die Engel im Takt der Musik bewegen, verschiedene Instrumente spielen und mit den Glocken und Schellen läuten. Eine deutsche Reisegruppe, die dem Konzert beiwohnt, ist genauso fasziniert von der Vorführung wie ich.
Jetzt sind es nur noch ein paar Kilometer bis Görlitz (Gierłóz), meinem nächsten Ziel. Hier kann, etwas außerhalb des Ortes mitten in einem Waldgebiet, die Wolfsschanze besichtigt werden. Eigentlich wollte ich mich nicht schon wieder mit der dunklen deutschen Vergangenheit beschäftigen, da in den letzten sieben Tagen bereits das Anne-Frank-Haus in Amsterdam und das Stasi-Museum in Berlin auf dem Programm gestanden und reichlich zum Nachdenken angeregt hatten. Aber wenn man sich dann schon in der Nähe aufhält …Die Wolfsschanze wurde durch die Organisation Todt (wiemakaber) errichtet. Bis 1944 standen rund 100 Gebäude und Bunker auf dem Gelände. Am 20.07.1944 sollte hier das Attentat von Graf von Stauffenberg auf Hitler ausgeübt werden. Eine kleine Gedenkstätte in Form eines aufgeschlagenen Buches erinnert an den misslungenen Versuch.
Hitler regierte hier rund 800 Tage und so mancher verbrecherische Befehl wurde an diesem Platz verkündet. Der Mann aus Braunau verließ das Quartier 1944, als die Rote Armee nur noch ein paar hundert Kilometer entfernt war. Später, 1945, wurden viele Gebäude von der zurückweichenden Wehrmacht gesprengt.
Ich streife eine gute Stunde durch die Anlage, schaue mir die verfallenen Ruinen an und hänge meinen Gedanken nach. Die einzelnen Bauwerke sind nummeriert und so kann man sich anhand des Lageplans immer vorstellen, wie es hier früher gewesen sein mag. Ich scheine der einzige Besucher zu sein. Im ehemaligen Haus der SS ist jetzt ein Restaurant untergebracht. Auf dem fast leeren Parkplatz sitzen drei „Führer“ in ihren Autos und warten auf Kundschaft.
Bedrückt gehe ich zum Auto zurück und fahre heimwärts. Viele Seen, die an beiden Seiten der Straße im Licht der Abendsonne glänzen, sorgen dafür, dass sich meine Stimmung wieder bessert. Bei einsetzender Dunkelheit erreiche ich Allenstein. Die mächtige Michelin-Werbung am Stadteingang ist nicht zu übersehen, der Reifenhersteller soll einer der größten Arbeitgeber der Region sein. Heute finde ich das Hotel ohne fremde Hilfe auf Anhieb. Den Abend verbringe ich in der Altstadt nahe der Burg und trinke ein paar Gläser polnisches Bier.Am nächsten Morgen zeigt sich der Wettergott einmal mehr von seiner besten Seite. In westlicher Richtung geht es weiter. Immer wieder tauchen kleine Seen auf. Auch heute sind die Straßenbauer groß im Einsatz und dann und wann muss ich einer Umgehungsstraße folgen. Eine kleine Pause lege ich in Eylau (Iława), dem wichtigsten Ferienzentrum der Westmasuren, ein und wandere am Geserichsee entlang. Nach einiger Zeit erreiche ich Graudenz (Grudziadz) und überquere die Weichsel auf einer riesigen Eisenbrücke. Immer wieder hat man die Möglichkeit, Pilze und selbst hergestellten Honig am Wegesrand zu kaufen. Über Bromberg (Bydgoszcz) geht es dann wiederum nach Posen. Hier habe ich kleine Orientierungsprobleme, da mir der ausgeschilderte polnische Grenzort Świecko nichts sagt und Frankfurt, Berlin oder Deutschland nicht angezeigt werden. Beim Warten vor der Ampel drehe ich die Scheibe herunter und erhalte von einem freundlichen Mann die notwendige Information.
Auf der Autobahn geht es zügig weiter. An einem der letzten Kantor-Schalter wechsele ich mein restliches polnisches Geld ein und ein paar Momente später verlasse ich Polen und fahre über die Oder der Stadt Frankfurt entgegen. Meinen Reisepass habe ich nicht mehr gebraucht.