Sekt und Sushi
Im Juni 2010 fliege ich zum 5. Mal in die für mich schönste und interessanteste Stadt Russlands. Im Hauptbahnhof Hannover ergeben sich einige Probleme, zum Flughafen zu gelangen. Die S-Bahn ist wegen eines Suizids auf unbestimmte Zeit gesperrt. Am Infoschalter erkundige ich mich, ob nicht jemand die Taxifahrt nach Langenhagen mit mir teilen möchte. Und so ist es dann auch geschehen.
Knapp 2,5 Stunden benötigt die Fokker 50 bis Riga, dann, nach weiteren 50 Minuten, landen wir in St. Petersburg. Es ist schon später Abend, denn zwei Stunden Zeitunterschied sind zu berücksichtigen. Schnell tausche ich etwas Geld (1 Euro entspricht rund 38 Rubeln) und eile zum Bus, der in regelmäßigen Abständen zur Metrostation „Moskovskaja“ fährt. Jetzt sind es nur noch ein paar Minuten zum Nevskij-Prospekt und kurze Zeit später checke ich im „Hotel at the Hermitage“, direkt an der Mojka, ein. In unmittelbarer Nachbarschaft befinden sich Büros des Otto-Versands und der Immobilienfirma Engel & Völkers. Es ist, obwohl nach 22.00 Uhr, noch taghell.
Mein letzter Besuch der Stadt ist zwar erst 18 Monate her, aber die Gastronomieszene am Nevskij-Prospekt hat sich doch schon verändert. Sushi-Restaurants sind allgegenwärtig und nehmen die besten Plätze an der „Lebensader“ der Stadt ein. Heizkörper sorgen dafür, dass man auch in den Außenanlagen seinen Fisch essen kann ohne zu frieren. Mir allerdings steht nicht der Sinn nach dieser japanischen Köstlichkeit, schließlich befinde ich mich in Russland. So gehe ich ein paar Schritte weiter und setze mich in ein einheimisches Lokal am Gribojedow-Kanal. Von zwei Bildschirmen kann die Fußballweltmeisterschaft live erlebt werden. Gegen 23.00 Uhr leuchten die Türme des Dom Knigi (Haus des Buches) und der Kasaner-Kathedrale in der Abendsonne als sei früher Nachmittag. Jetzt noch ein paar Gläser Baltika-Bier und dann ist es Zeit, ins Hotel zurück zu gehen.
Tanja muss arbeiten, deshalb beginne ich meine heutige Stadterkundung allein. Leider ist es kühl und auch die Sonne kämpft sich nur dann und wann durch die dicke Wolkenschicht. Zunächst gehe ich zum Schlossplatz, fotografiere obligatorisch den Winterpalast, die Alexandersäule und das Generalstabsgebäude, aber auch zum WC umfunktionierte Autobusse, die direkt am Rand des Platzes den Menschen Linderung zu verschaffen helfen.
An der Admiralität vorbei geht es über die Dvorcovyj-Brücke zur Wassiljewskij-Insel. Hier war ich 1978 das bisher einzige Mal. Zwar hatte ich die markanten Bauten bei allen vorigen Besuchen vom anderen Neva-Ufer gesehen, aber eben nur aus der Ferne. Viele Touristen, vorwiegend Gäste aus Skandinavien, begutachten die Rostra-Säulen, so werden die beiden Leuchttürme mit Schiffsschnäbeln genannt, die Börse, das Zoologische Museum und die Kunstkammer. Auch die Souvenirverkäufer wittern ihr Geschäft und bieten Mitbringsel aller Art an. Das Gebäude der ehemaligen Börse beherbergt jetzt das Kriegsmarine-Museum.
Über einen kleinen Steg erreiche ich die Haseninsel mit der Peter-Paul-Festung. Auch hier mangelt es nicht an interessierten Zuschauern und Reisegruppen. Im „Bootshaus“ erwerbe ich eine Eintrittskarte und besichtige dann die Peter-Paul-Kathedrale, die, dank des 122,5 m hohen Turms, auch „goldene Nadel“ genannt, weithin sichtbar ist. Nebenan befindet sich die Gruft, in der 1998 die letzte Zarenfamilie beigesetzt wurde. Das ehemalige Gefängnis kann ebenfalls besichtigt werden, danach verlasse ich die Festung durch das Peterstor. Pünktlich um 12.00 Uhr mittags ertönt ein Glockenspiel mit der Melodie „Ich bete an die Macht der Liebe“ vom Turm der Kathedrale. Am Ufer der Insel ist ein steinerner Hase auf einem Sockel zu sehen, auf dem Postament daneben liegen einige Geldstücke. Tanja erklärt mir später, dass man mit dieser Spende das Glück pachten kann.
Auf dem Rückweg überquere ich die Neva auf der Troickij-Brücke. Im Marsfeld mit der ewigen Flamme lege ich eine kleine Pause ein, um dann für die Erlöserkirche, auch Heiligblutkirche genannt, gestärkt zu sein. Was ist hier nur los! Besucher aller Nationen und Hautfarben drängen sich am Eingang, im Inneren ist fast kein Durchkommen, überall lauschen die Gruppen den Erklärungen ihrer Reiseführer. Später höre ich, dass Tanja mit ihrer Busgesellschaft auch hier war. Aber das Gotteshaus, das gern mit der Basilius-Kathedrale in Moskau verglichen wird, ist auch wirklich interessant und sehenswert. Wunderschöne Mosaiken sind an den Wänden angebracht und während der Sowjetzeit wurde die Kirche zum Museum des russischen Mosaiks erklärt.
Sie wurde an der Stelle gebaut, wo Zar Alexander II einem Attentat zum Opfer gefallen war, von daher auch die Bezeichnung „Erlöserkirche auf dem Blute“.
Gegen Abend holt Tanja mich im Hotel ab und wir gehen gemeinsam zur Bootsanlegestelle an der Mojka. Auf diesem Schiff werden Kopfhörer mit Erklärungen in vielen Sprachen, so auch in Deutsch, verteilt. Wir fahren zunächst den Fluss hinunter, am Schlossplatz vorbei, und haben dann auf der Neva das schöne Panorama der Wassiljewskij-Insel mit der Kunstkammer und der Börse vor uns, die Isaak-Kathedrale, das Zarenstandbild am Dekabristenplatz, jetzt Senatsplatz, und die Admiralität. Etwas später leuchtet uns der Turm der Peter-Paul-Festung entgegen. Nach kurzer Zeit biegen wir ab auf die Fontanka, kommen unter anderem am Sommerpalast vorbei, weiterhin an eindrucksvollen Schlössern und Palästen, bis die Anitschkow-Brücke mit den bekannten Pferdeskulpturen vor uns auftaucht. Hier drehen wir um und fahren zum Anleger zurück. Es ist sehr interessant gewesen, auch die Sonne zeigte sich so dann und wann, aber trotzdem habe ich gefroren wie ein Schneider. Tanja verbrachte mehr als die Hälfte der Fahrt unter Deck.
Zum Abendessen gehen wir ins Restaurant „Zar“ und genießen die russische Küche. Die Toilette mit der Lederlehne ist mir nachhaltig in Erinnerung. Beim Nachhausegehen besteht Tanja darauf, mich als Zar verkleidet zu fotografieren. Zepter und Krone stehen am Ausgang für diese Zwecke zur Verfügung. Leider müssen wir uns anschließend für heute verabschieden, Tanja muss am nächsten Tag um 5.30 Uhr aufstehen und zum Hafen fahren, um neue Gäste für eine Stadtrundfahrt in Empfang zu nehmen. Jetzt, zur Zeit der Weißen Nächte, ist ganztägiger Stress angesagt.
Ich schlendere noch am Prospekt entlang, trinke hier und da ein Bier, informiere mich über die aktuellen Ergebnisse bei der Weltmeisterschaft in Südafrika und mache gegen 1.00 Uhr morgens noch ein Foto von der Kasaner-Kathedrale – ohne Blitz versteht sich. Ein paar Reiter kommen mir entgegen. Im Lokal „Möwe“, das häufig von deutschen Besuchern angesteuert wird, steht unverständlicherweise ein HSV-Wimpel.
Immer wenn die Ampeln am Nevskij-Prospekt auf grün schalten, starten alle Motorradfahrer mit höllischem Lärm, nur auf dem Hinterrad fahrend, und fühlen sich wahrscheinlich als Darsteller von „Easy Rider“. Es wundert mich, dass die ach so aufmerksame Polizei nicht einschreitet und sie gewähren lässt.
Dann begebe ich mich zum Ufer der Neva und warte in Höhe des Winterpalastes auf das Spektakel, das nur in den Sommermonaten stattfindet und das mir bisher versagt war: Nämlich die Öffnung oder das Hochziehen der Neva-Brücken. Dieses Schauspiel will ich mir auf dieser Reise auf keinen Fall entgehen lassen. Einige 100 Menschen warten schon in bester Stimmung, später sind bestimmt über 1.000 Gäste Zeuge dieses Ereignisses, viele haben eine Flasche in der Hand. Reisegruppen werden im Bus herangefahren, etliche junge Menschen, vermutlich Studenten, verkürzen sich die Wartezeit mit einem Schluck aus der Sektflasche. Die Stimmung ist bestens und das ganze Ufer scheint in Feierlaune zu sein. Aber auch auf dem Fluss warten Interessenten auf über 30 Touristenbooten gespannt auf das weitere Geschehen.
Kurz vor 1.30 Uhr wird der Verkehr über die Dvorcovyj-Brücke gestoppt und dann öffnen sich die beiden Flügel und werden in vollem Lichterglanz, begleitet von einem großen Jubelgeschrei der Anwesenden, nach oben gezogen. Yachten und kleinere Boote fahren als erstes an uns vorbei, etwas später folgen dann die größeren Schiffe, die nur bei geöffneter Brücke die Neva passieren können.
Am nächsten Tag regnet es und ich freue mich, das Öffnen der Brücke bei gutem Wetter und wolkenlosem Himmel beobachtet zu haben. Nach dem Frühstück gehe ich langsam die Mojka entlang zum Jussupow-Palast, vorbei am Goethe-Institut, der Isaak-Kathedrale und vielen zum Verkauf stehenden Häusern. Am Eingang kann man gegen Abgabe eines Pfands kostenlos ein Audiophone in Empfang nehmen und erhält somit genügend Informationen über das Palais, seine Geschichte und die einzelnen Räume. Besonders beeindruckt haben mich die große Rotunde, der maurische Saal und das für 180 Gäste ausgestattete pompöse Theater. Tanja meint, dass Franz Liszt hier einmal ein Konzert abgebrochen habe, als der Zar sich mit seinem Nachbarn unterhielt, denn wenn die Obrigkeit spricht, hat das Volk zu schweigen.
Das Haus erlangte große Bekanntheit, weil Rasputin einer Verschwörung zum Opfer fiel und hier ermordet wurde. Die Szene wird von Wachsfiguren nachgestellt. Zur Zeit meines Besuches ist dieser Teil des Gebäudes nicht geöffnet und es hätte auch noch zusätzlich Eintritt gekostet.
Auf dem Programm steht heute nach vielen Jahren wieder der Besuch des Alexander-Nevskij-Klosters am Ende des Prospekts. Mit der Metro fahre ich fast bis vor den Eingang und spaziere dann geraume Zeit durch die Anlage. In der Dreifaltigkeitskathedrale lausche ich einige Momente dem Gottesdienst. Später mache ich es mir in der Lounge des Hotels „Moskwa“, wo ich im September 1999 gewohnt hatte, bequem. Das Café im 7. Stock ist leider geschlossen.
Am nächsten Morgen scheint die Sonne und sofort mache ich mich auf den Weg und fahre bestens gelaunt mit dem Trolleybus 5 zum Smolnyj-Kloster, dass ich auch bisher nur einmal, nämlich 1978, besichtigt hatte. Die Anlage, in einem schönen Park gelegen, ist eine Augenweide, der Anblick der Kuppeln unter blauem Himmel einfach schön, „schön kitschig“, aber auch, zumindest in meiner Empfindung, typisch russisch. Ein Polizist murrt, als ich einmal vom rechten Weg abkomme und eine Rasenfläche betrete.
Den Rest des Tages verbringe ich am Nevskij-Prospekt, statte der Cafeteria im Dom Knigi einen Besuch ab, trinke hier und da eine Kleinigkeit in einem der vielen Lokale mit Außenbestuhlung und beobachte in Höhe der evangelischen Petrikirche das Treiben auf der Straße. Ich habe zwar ein Buch dabei, aber bei diesem Kommen und Gehen ist mir nicht nach Lesen zumute. Schließlich genieße ich hier volles Openair-Kino, und das auch noch in der ersten Reihe.
Abends holt Tanja mich wieder ab und wir beschließen, zum Restaurant im nahe gelegenen Stroganow-Palast zu gehen, das Essen soll dort sehr gut sein. Aber leider ist auch hier die Sushi-Kultur eingekehrt. Meine Begleiterin meint, dass Fürst Stroganow im Kampf einige Finger verloren hat, deshalb wurde das Fleisch in kleine Stücke geschnitten und ihm verzehrfertig hingestellt. Allerdings erklärt sie, dass es noch weitere Deutungen des Begriffs „Boef Stroganow“ gibt.
So begeben wir uns dann stattdessen zum Gribojedow-Kanal und essen im Restaurant „Sankt Petersburg“, ein paar Schritte von der Heiligblutkirche entfernt. Das Lokal wird überwiegend von Touristen besucht, gefällt mir aber trotzdem sehr gut. Ein Duo sorgt mit seinen klassischen Standards für die richtige Atmosphäre. Nach dem leckeren Abendessen werden wir noch mit Gesangs- und Tanzfolklore unterhalten.
Leider heißt es dann wieder Abschied nehmen. Ein letzter Blick auf die Kasaner-Kathedrale, auf den lebhaften Nevskij-Prospekt und auf die Erlöserkirche, die sich im Wasser des Kanals spiegelt.
Mit dem Taxi fahre ich am nächsten Tag rechtzeitig zum Flughafen. Beim Umsteigen auf dem Airport Riga konfisziert der Zoll eine Flasche Wodka, die ich im Duty Free-Shop in St. Petersburg gekauft hatte, das Glas mit rotem Kaviar darf ich behalten.
Ein freundlicher Flugbegleiter informiert uns ständig über das Ergebnis des WM-Spiels Deutschland-Serbien.
Die S-Bahn zum Hauptbahnhof Hannover ist wieder in Betrieb.
Ob ich St. Petersburg nochmals besuchen werde? Wer weiß …