Siebenbürgen
Unbarmherzig klingelt der Wecker – und das um halb drei Uhr morgens. Vor mich hin fluchend begebe ich mich ins Badezimmer, gestern gab es schließlich das letzte Saisonspiel von Werder zu feiern, das bekanntlich mit einem rauschenden Sieg endete. Mit dem Auto fahren wir, Schimmi, Werner und ich, dann zum Flughafen Langenhagen, checken ein und fliegen via München in kurzer Zeit nach Sibiu, dem früheren Hermannstadt. Unser Flug hat wegen nicht genügend Lotsen etwas Verspätung.
Ein Video über diese Reise ist bei Youtube unter
https://www.youtube.com/watch?v=sv1oSprLmao
abrufbar.
Kurze Zeit später sitzen wir bereits in unserem Mietwagen und begeben uns zur „Pensiunea Rubin“, wo wir die nächsten vier Nächte verbringen werden. Unser Hotel liegt zwar am Stadtrand, zeichnet sich aber durch ein gutes Restaurant und einen gemütlichen Biergarten aus und ist auch recht preiswert, die Taxifahrt ins Zentrum sowieso.
Warum nun Transsilvanien, wie es die Rumänen nennen? Zum einen wegen der historischen Städte wie Sibiu oder Braşov, das in Deutschland unter Kronstadt bekannter ist, aber auch wegen der hier häufig anzutreffenden Kirchenburgen und natürlich insbesondere wegen des bekannten sagenumwobenen Schlosses von Graf Dracula. Bekannte, die diesen Teil Rumäniens bereist hatten, erzählten mit Begeisterung von ihren Erlebnissen. Transsilvanien ist unseren Landsleuten aber auch relativ bekannt, weil sich vor rund 850 Jahren die Siebenbürger Sachsen hier angesiedelt haben. Viele Schilder zollen dieser Tatsache noch Tribut, weil man sie in rumänischer, ungarischer und deutscher Sprache lesen kann, denn viele Ungarn oder ungarisch sprechende Szekler sind zur Zeit des Habsburger Reiches ebenfalls hierher gezogen und haben zu der multikulturellen Kulturlandschaft beigetragen. Zur aktuellen Bevölkerung gehören auch Armenier, Roma, Landler (österreichische Protestanten) und Juden. Bis 1918 gehörte Siebenbürgen zu Ungarn und wurde während des Ersten Weltkriegs von Rumänien überfallen. Dieser junge Staat war aus den Fürstentümern Walachei und Moldau hervorgegangen. Unterschiedliche Religionen findet man in dieser Region vor: rumänisch-orthodox, griechisch-katholisch, reformiert etc.
Sibiu ist Hauptstadt des gleichnamigen Kreises und zählt knapp 150.000 Einwohner. Sie besteht aus Unter- und Oberstadt. Nach kurzer Ruhepause wandern wir durch einen schönen Park ins Zentrum und tauschen etwas Geld. Für einen Euro erhalten wir 4,75 Lei. Danach halten wir uns vorwiegend in der Oberstadt auf, besichtigen den Großen Ring, der hier Piaţã Mare heißt und bedeutenden Gebäuden Platz bietet, dem Hotel zum römischen Kaiser, dem Brukenthal-Palais, dem Ratturm und der Dreifaltigkeitskirche aus dem 18. Jahrhundert. Durch ein Tor erreicht man die Piaţã Huet mit der Stadtpfarrkirche. Über die Lügenbrücke schreiten wir auf die Piaţã Micã mit dem Luxemburghaus. Diverse Bistros und Restaurants, die meisten mit Außenbewirtschaftung, laden auf den großzügigen Plätzen zum Verweilen ein und so setzen wir uns hier nieder und genießen das erste von mehreren Ursus-Bieren. Das Getränk wird in Cluj-Napoca (Klausenburg), der größten Stadt Siebenbürgens, gebraut, allerdings wurde die Brauerei von einem japanischen Getränkekonzern übernommen. Es schmeckt sehr gut und ist bei der angenehmen Witterung ein edler Begleiter. In der Pension wird Stella Artois angeboten, angeblich ebenfalls in Rumänien gebraut.
Am Folgetag fahren wir, wiederum bei herrlichem Wetter, es ist warm und sonnig, in Richtung Bran (Törzburg), natürlich, um die Dracula-Burg, ebenfalls „Törzburg“ genannt, zu besichtigen. Rund 125 Kilometer beträgt die Strecke. Die Fahrt gefällt mir außerordentlich gut, wir kommen durch schöne alte Dörfer, überholen Pferdewagen, wundern uns über die überaus häufig anzutreffenden Straßenkreisel und freuen uns über die Storchennester, die wir in vielen Ortschaften vorfinden, meistens auf einem Strommasten gebaut. In vielen Nestern können wir schon den Nachwuchs beobachten. Auf der rechten Seite funkelt der Schnee von den Bergen der Südkarpaten. Auf einem Berg thront die mittelalterliche Burg Rãşnov, die auf den Deutschen Orden zurückgehen soll. Viele Menschen stehen an der Fahrbahn und warten darauf, mitgenommen zu werden. Gegen Mittag ist unser Ziel erreicht.
Da montags später geöffnet wird, haben wir noch etwas Zeit und können uns die reichlich vorhandenen Verkaufsstände ansehen oder einen Kaffee trinken. Viele Reisegruppen sind unterwegs, man spricht von jährlich 560.000 Besuchern. Die auf einem Kalksteinfelsen im Jahre 1377 mit Flusssteinen errichtete Törzburg (Castelul Bran) diente einst zur Überwachung der Grenze und als Zollstation zwischen der Walachei und dem Burzenland. Im Jahre 1395 wurde Mircea del Bãtrân Eigentümer, der Großvater des legendären Vlad Țepeş, besser bekannt als Graf Dracula. Letztgenannter ist allerdings nie hier gewesen, geschweige denn war er als Besitzer eingetragen.
Beim Kassenhäuschen lesen wir, dass Senioren einen Sonderpreis zahlen – und nach einem Ausweis wird nicht gefragt. Über eine monumentale Treppe erreichen wir das wuchtige Gebäude und besichtigen die Räume auf vier Stockwerken, darunter die Privatgemächer von Königin Maria, der die Burg im 19. Jahrhundert geschenkt wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahm der Staat die Immobilie und 2006 erfolgte die Rückgabe an den in New York lebenden Dominic von Habsburg. Beim Rückgang zum Auto können meine beiden Mitreisenden einem Käsestand nicht widerstehen und kaufen reichlich ein.
Da wir uns nun schon in der Nähe von Braşov befinden, wollen wir die Stadt natürlich auch besuchen, nur unser Navi spielt nicht mit und führt uns in die falsche Richtung. Nach etlichen Kilometern durch eine wunderbare interessante Karpatenlandschaft mit herrlichen Panoramaaussichten bemerken wir den Fehler und kehren zähneknirschend um. Gegen Abend haben wir einen Parkplatz gefunden und gehen erwartungsvoll auf Entdeckertour. Kronstadt zählt gut 250.000 Einwohner und ist Hauptstadt des Burzenlandes. Das historische Zentrum ist verkehrsberuhigt. Gegenüber unserem Parkplatz erhebt sich das aus der Renaissance stammende Katharinentor und ein paar Momente später stehen wir schon vor der Schwarzen Kirche, dem Wahrzeichen der Stadt. Seinen Namen verdankt das mit einer Höhe von 87 Metern größte gotische Gotteshaus Siebenbürgens einem Brand im Jahre 1698. Bei dieser Katastrophe wurden ihre Wände und Mauern weitgehend geschwärzt.
Nun ist es nicht mehr weit bis zum Rathaus- oder Marktplatz, dem Piațã Sfatului. Glücklich suchen wir uns einen Tisch und essen etwas im Licht der warmen Nachmittagssonne. Dieser Platz ist ein Juwel, inmitten befindet sich das Alte Rathaus aus dem Jahre 1420, in dem nun das historische Museum und die Tourismus-Information untergebracht sind. An der Peripherie erkennen wir ein Museum, die Dreifaltigkeitskirche, die Maria-Entschlafens-Kathedrale und eine orthodoxe Kirche. Wir verweilen geraume Zeit in dieser ehrwürdigen Umgebung und machen uns dann auf den Heimweg. Und der hat es in sich. Binnen kurzer Zeit ist eine riesige Regenfront aufgezogen und es blitzt und donnert als ob der Weltuntergang bevorstünde. Die Scheibenwischer sind teilweise überfordert. Nach diesem langen und anstrengenden Tag halten wir uns abends nur noch in der Pension auf.
Am nächsten Morgen ist es kühler, manchmal regnet es. Wir machen uns auf den Weg, um eine Spezies von Siebenbürgen, nämlich eine Kirchenburg zu besichtigen. Unser Navi lenkt uns auf kleinen Straßen dem Ziel entgegen. Wieder kommen wir durch etliche Dörfer, die häufig einen ausgestorbenen Eindruck machen. Menschen auf der Straße sieht man selten, alle Fenster, Türen und Tore sind geschlossen, vor den Gebäuden verläuft oftmals ein Abflussgraben. Einige Felder sind als Terrassen angelegt, kleine Ortschaften werden manchmal auch in deutscher Sprache angezeigt, wie z. B. Reichesdorf, das in der Landessprache Richiş genannt wird. Nach einer guten Stunde Fahrzeit ist Biertan (dt. Birthälm) im Siebenbürgischen Weinland erreicht. Die Kirchenburg und der innere Ortskern gehören zum UNESCO-Weltkulturerbe. Auf dem höchsten Punkt des Dorfes gebaut ist die Burg weithin sichtbar. Einige Busse halten auf dem Parkplatz. Wir kaufen eine Eintrittskarte und schreiten über einen überdachten Treppengang der 1516 vollendeten Kirche entgegen. Zur Wahrnehmung der vom König gewährten Verteidigungsrechte mussten Festungsanlagen errichtet werden. Da eine Befestigung des gesamten Ortes die Einwohner nicht nur finanziell überfordert hätte, sondern ihre Zahl auch nicht ausgereicht hätte, eine solch ausgedehnte Wehranlage zu verteidigen, wurde – wie oftmals in Siebenbürgen – nur die Kirche befestigt. Die Birthälmer Kirchenburg besitzt drei Mauerringe mit insgesamt neun Türmen. Prunkstück ist ein aus 28 Tafeln bestehender Flügelaltar. Weitere Besichtigungspunkte: ein Schloss mit 13 Riegeln, die Grabsteine im Nordturm und das Gefängnis in der Ostbastei, wo zerstrittene Eheleute so lange eingesperrt wurden bis sie gelobten, sich wieder zu vertragen. An einem Souvenirstand erwerbe ich zwei kleine Haushaltsgeräte aus Holz. Auf der Weiterfahrt nach Mediaş wundere ich mich über mehrere mobile Bienenkästen auf einer Wiese neben der Straße.
Die Stadt (dt. Mediasch) liegt an der Großen Kokel und zählt 44.000 Einwohner. Wir finden einen Parkplatz im Zentrum und machen uns zu Fuß auf den Weg. Weithin sichtbar ist der 70 Meter hohe Trompeterturm der Margarethenkirche, gleichzeitig auch Wahrzeichen von Mediaş. Ein Teil ihrer Stadtmauern ist noch erhalten. Wir schauen uns das Kirchenkastell an, es soll sich um die einzige erhaltene Stadtkirchenburg Siebenbürgens handeln, und betreten den Kirchhof durch den Tor- oder Glockenturm und stehen dann vor dem Geburtshaus von Stefan Ludwig Roth, einem Schüler Pestalozzis, der sich als Professor und Pfarrer im 19. Jahrhundert beim Kampf um die Gleichberechtigung verdient gemacht hat. Neben unserem Parkplatz erkennen wir ein Hotelrestaurant mit dem schönen Namen „Traube“. Auf nunmehr größeren und besseren Straßen geht es heimwärts.
Zum Abendessen fahren wir wieder in die Oberstadt, allerdings haben uns die Speisen und auch die Bedienung im Hotelrestaurant „Weidner“ nicht besonders gefallen. Getafelt haben wir im rustikalen Keller, weil es draußen ein wenig zu kalt war. Zum Skatspielen wechseln wir in ein nahes Bistro. Zurück in der Pension trinke ich noch ein Bier und werfe einen Blick auf die hier feiernde Silberhochzeitsgesellschaft. Ein freundlicher Kellner spendiert mir auf Kosten des Hauses ein Glas „Tuicã“, einen Pflaumenschnaps aus der Umgebung. Um 23:00 Uhr ist Schluss, alle Gäste begeben sich nach Hause. Viele Autofahrer unter den Feiernden, so meine ich, haben dem Alkohol wohl sehr zugesprochen, wie der volle Parkplatz am nächsten Morgen verkündet. So begebe ich mich dann auch auf mein Zimmer, der Nachtportier, der deutschen Sprache unkundig, hakt meinen Namen auf seinem Kontrollzettel ab.
Nun ist der letzte Tag angebrochen. Wir setzen uns wieder in unser Auto und fahren in die Karpaten, nämlich zum etwa 30 Kilometer entfernten Hausberg Sibius im Skigebiet bei Pãltiniş (dt. Hohe Rinne). Eine sehr angenehme Fahrt durch eine tolle Berglandschaft in einer mittleren Höhe von gut 1.440 Metern. Oben angekommen wandern wir ein wenig herum, schauen uns die Liftanlagen und Schneekanonen an und trinken eine Kleinigkeit. Auf der Rückfahrt erfreuen wir uns noch an einigen der zahlreichen Schafherden, die von einem Schäfer beaufsichtigt werden. Kurz vor Sibiu halten wir beim „Museum der traditionellen Volkskultur“ und wandern durch die interessante Anlage. Alte Bauernhöfe, Handwerksbetriebe, Kirchen, eine Schule, Wind- und Wassermühlen aus vergangenen Zeiten wurden an diesem Platz wieder aufgebaut und können von der Nachwelt bestaunt werden. Ein wunderbarer und interessanter Abschluss unseres Programms.
Abends fahren wir wieder in die Innenstadt und speisen lecker und preiswert im Restaurant „Union“ an der Piaţã Micã. Hier, draußen unter einem kleinen Zelt, spielen wir auch die letzten Skatrunden aus, denn die Kasse muss selbstverständlich für zukünftige Fahrten wieder gut gefüllt sein. Morgen geht es auf gleichem Wege zurück nach Bremen.
PS:
Im Februar 2019 veröffentlichte der Weserkurier einen Artikel über die allgegenwärtige Korruption in Rumänien. Auf einer ganzen Zeitungsseite wurde dieses Thema behandelt. Hatte das Land, das seit 2007 zur EU gehört, doch am 1. Januar 2019 die EU-Ratspräsidentschaft übernommen. Ist es in der Lage, diese Funktion auszuüben? Die Regierung versucht seit geraumer Zeit, das Justizwesen gegen den Willen des Staatspräsidenten zu reformieren. Staatsanwälte und Richter könnten dann wegen der Reform weniger unabhängig arbeiten. Korruption soll erst ab einer Summe von 43.000 Euro strafbar sein. Der Chef der sozialdemokratischen PSD ist vorbestraft, gegen ihn wird wegen Amtsmissbrauchs ermittelt. Weil er aus diesem Grund nicht Ministerpräsident werden konnte, berief er seine Vertraute in dieses Amt, die jetzt landläufig als seine Marionette bezeichnet wird. Es wurden Gegenbewegungen gegründet mit dem Ziel, die im Lande verbotene Korruption tatsächlich zu bekämpfen oder auszulöschen. Hoffen wir, dass diese Aktion Erfolg hat – wir haben während unserer kurzen Reise nichts davon mitbekommen.
Auch sind wir nicht durch Siedlungen der Roma gefahren, die nach der Revolution 1989 zu den zuerst Entlassenen gehörten und bei der Arbeitsplatzsuche diskriminiert werden. Sie wohnen häufig in Ghettos ohne fließendes Wasser und ohne Strom, Kinder sogar auf der Straße. Um diese Stadtteile haben wir einen großen Bogen gemacht. Allerdings waren wir an einem Abend Zeuge, als ein älterer Mann in Sibius Innenstadt von ein paar Jugendlichen mit Worten und Handgreiflichkeiten traktiert wurde, er sich überhaupt nicht gewehrt hat. Das hat uns sehr nachdenklich gestimmt.